PRESSE
Musik
für eine Stadt L'ART POUR L'ART - Projekt.
Kinder
und Jugendliche komponieren
Wer sich vom 2. bis 18. Juli dieses Jahres etwas Besonderes gönnen wollte,
der fuhr in das kleine niedersächsische Städtchen Winsen an der
Luhe. Ich hatte mir die beiden Kinderkonzerte, die am 1 1. und 16. Juli im
Rahmen der 5. Winsener Kulturtage mit dem Titel "Neue Musik - Kunsttendenzen"
stattfanden, ausgesucht und den Besuch nicht bereut. 14 Kinder und Jugendliche,
freiwillig zusammengekommen und unter der Leitung und Betreuung von L'ART
POUR L'ART arbeitend, stellten uns ihre Kompositionen vor, an denen sie regelmäßig
seit Januar einmal in der Woche gearbeitet hatten. Aber die Vorstellung war
nicht so, wie man's gewohnt ist: Unten im Saale sitzen die Zuhörer, oben
auf dem Podium spielen die Musiker. Nein, es war ganz anders: Mit Bussen wurden
wir durch die Stadt gefahren, eben an die Orte, an denen die Musik stattfand
und wofür sie auch geschrieben war - an Straßenecken, am Bahnhof,
unter einer riesengroßen Weide, im Wald, am Fluss, am Teich, vor alten
Scheunen. Diese vorab von den Kindern ausgesuchten Plätze waren als besonders
darstellungswürdig empfunden und entsprechend musikalisiert worden. So
führte uns Eva Mummert (1 1) humorvoll an eine Straßengabelung,
an der in kurzen Abständen vier Autos immer wieder vorbeizogen. Da gab
es ein Schlagzeugauto, ein Klarinettenauto, ein Akkordeon- auto, ein Trompetenauto.
Wir standen gespannt wartend und lauschten den kurzweiligen Musikstücken,
die uns ein amüsanter Genuss waren. Es erübrigt sich zu erwähnen,
dass alles Vorgetragene genauestens aufgeschrieben worden war! Die Ernsthaftigkeit
und Intensität der Vortragenden ließen keinerlei Zweifel zu: Es
wurde nichts dem Zufall überlassen. Und das gilt für alle Stücke.
Man stieg wieder in die Busse; denn Romy Mittag (1 0) lud zum "Gartenblues"
ein. Da wurden Blumen- töpfe zum "Klangzeug", da wurden Schubkarren
"auditiv sensibilisiert" - so hätten wir Älteren das in
den 70er Jahren genannt - , da wurden aus Harken und Forken Musikinstrumente,
und wieder hörten wir gebannt zu.... .... Bezaubernd die Aktion am Schlossteich:
"Felix, der Knödelfrosch" für Violine, Pauke und Tonband.
Matthias Kaul bediente das vorab präparierte Tonband, Komponist Jakob
Mummert (7) agierte an einer Kesselpauke und seine Schwester Eva accompagnierte
auf und mit ihrer Geige kratzend das Knödeln und Quaken des vermeintlichen
Frosches. "Entdeckendes Lernen", "Lernen durch Tun", "Lernen
durch Anschauung" u.ä.: Welcher Musiklehrer wünscht sich nicht
in seinem Unterricht die Verwirklichung dieser Ziele? Die Winsener Kinder
zeigten unter Anleitung ausgezeichneter Musikerlnnen und Pädagoglnnen,
wie es gehen kann. Und weiter ging's zum "Streit an der Luhe" für
Klarinette, Harfe und Steineschmeißer. "Plötzlich schwappt
das Wasser ganz doll hin und her" - so der schriftliche Kommentar von
Christine Ernst (8) - das ließ uns schon ahnen, dass sich da wohl etwas
Ungewöhnliches ereignen würde: Natürlich tauchte dort aus der
Luhe ein Bär auf! Die vorzügliche Harfenistin Eva Pressl interpretierte
ihren Part so amüsant und stimmungsvoll, dass wir uns der Faszination,
die durch Natur und Musik entstand, nicht entziehen konnten.... .... Wie muss
gearbeitet worden sein, um so eine Konzertfolge so positiv gestalten zu können!
Noch ein Gedanke kam mir. Wie wohltuend ist es doch, dass keiner nach einem
ersten Preis schielte.... .... Matthias Ernst (1 1) hatte sich eine wunderschöne,
riesengroße Weide ausgesucht. Dieses Klangstück ließ zum
ersten Mal die Frage aufkommen: Das soll der Matthias wirklich selber komponiert
haben? Ja, er hat, gemeinsam mit Lehrkräften und lnstrumentalistinnen.
Denn so wie der Mensch nie alleine sprechen, lesen und schreiben lernt, so
kann er auch nicht alleine Musik lernen. Mit Vassil Richter (12) und seiner
"Wilden Geschichte" für Schlagzeug setzte der gefürchtete
Regen ein. Und wieder fügte sich Naturhaftes der Bäume und Kunstvolles
der Instrumente sinnig ineinander, so dass selbst dem Regen noch eine ästhetisch-akustische
Komponente zuerkannt wurde.... Der Stadt Winsen an der Luhe ist zu wünschen,
dass ihr diese Symbiose von Alltäglichem und Kunst, von komponierenden
und produzierenden Kindern mit ihren Betreuern und Lehrkräften und einem
engagierten Publikum noch viele Jahre erhalten bleibt. Hildegard Junker (gekürzte
Fassung),
aus"Üben & Musizieren" August 1999